In alten Tagen lebten irgendwo ein aufrechter, fleissiger Mann und seine ebenso aufrechte, fleissige Frau. Tagtäglich gingen sie aufs Feld, taten ihre Arbeit. Von Zeit zu Zeit gingen sie in die Berge, um Holz zu machen. Doch der Alte und seine Frau, die hatten weder Sohn noch Tochter, und so verstrichen ihre Tage voller Sorgen.
Eines Tages geschah etwas. Der Alte hatte seine Kraxe auf dem Rücken, war tief in den Bergen unterwegs, um Holz zu holen. Da erklang plötzlich irgendwoher das Zwitschern eines Vogels. Der Alte liess sein Werkzeug fallen, wandte sich in die Richtung, aus der das Vogelgezwitscher kam. Und da war ein seltsamer blauer Vogel, der auf einem Ast sass und sein Liedchen sang. Der Vogel, der beäugte auch den Alten, dann flog er auf, tiefer in den Wald hinein, liess sich wieder auf einem Baum nieder und sang. Der Alte, vom Gesang ergriffen, folgte. Doch kaum hatte der Vogel den Alten bemerkt, flog er auf, tiefer in den Wald, setzte sich, sang - so trieb er es, bis sie zu einem riesigen Felsen kamen - und da war der blaue Vogel spurlos verschwunden.
Der Alte stand da, völlig verwirrt, spitzte die Ohren. Aber - kein Vogelgezwitscher mehr, dafür aber irgendwoher plätscherndes Wasser. Gerade da vermeinte der Alte, Durst zu spüren, er suchte, woher denn das Geräusch des Wassers kam. Und da entsprang doch, klar wie Bergkristall, aus einer Spalte des Felsens Quellwasser. Der Alte ging in die Knie, beugte sich vor und trank in tiefen Zügen von dem Wasser. Doch was war das? Seltsam: Wie im ganzen Körper das Blut kreiste, strömte neue Kraft in Arme und Beine, der Rücken dehnte sich, wurde gerade.
«Das, was ist denn das? Seltsame Sachen gibt’s, dachte sich der Alte und wollte sich über den Bart streichen. Aber die weissen Barthaare, sie fielen aus!
«Hm, in diesen Bergen soll es ja eine wundersame Quelle geben, das wird sie wohl sein, freute sich der Alte, noch einmal beugte er sich hinunter, trank von dem Quellwasser. Ja, und auf dem Handrücken, wurden wieder glatt. Der plötzlich wieder jung gewordene Alle war froh, so froh, er begann. wild umherzutanzen. Dann, als der Tag zur Neige ging, nahm er sein Bündel Holz und kehrte nach Hause zurück.
Dort hatte seine Frau schon auf ihn gewartet, und weil es dunkelte, er noch nicht zurück war, entzündete sie eine Fackel, um ihm entgegenzugehen. Nach einer Weile traf sie unterwegs einen jungen Mann, den fragte sie: «Ihr, junger Mann! Habt ihr nicht einen alten Grossvater gesehen, der mit einer Last Holz auf dem Rücken hierher herunter kommt?» Der junge Mann lachte laut: «Nein, so einen hab ich nicht gesehen», tat er ganz dumm. Ihr aber kam die Stimme des jungen Mannes irgendwie vertraut vor. Sie trat näher, betrachtete ihn im Fackelschein. Da lachte der junge Mann wieder los, und jetzt entdeckte sie in ihm ihren Ehemann. Zusammen liefen sie den Weg zu der wundersamen Quelle zurück, sie trank auch von dem Wasser und als junges Ehepaar kehrten sie nach Hause zurück.
In der Nachbarschaft, da lebte ein selbstsüchtiger Herr, der hiess Ch’oe Ch’omji. Als der erzählen hörte, dass die beiden Alten in junge Menschen verwandelt worden seien, dachte er sich, er könne doch wohl auch von dem Quellwasser trinken und wieder jung werden. Am nächsten Morgen holte Ch’oe seinen neuen Mantel heraus, zog ihn an, setzte den Rosshaar-Zylinder auf und begann, die Quelle zu suchen. Tief in den Bergen kam auch er zu dem riesigen Felsen, und wirklich, darunter floss kristallklares Quellwasser heraus.
Ch’oe freute sich, er ging in die Knie, eine ganze Zeitlang trank er das Wasser in sich hinein -und wurde in einen jungen Mann Verwandelt. Noch einmal trank er - diesmal wurde aus ihm ein Knabe. Der selbstsüchtige Ch'oe war glücklich: «Ja, das ist gut, wirklich gut. Wie es nun mal ist, das Wasser schmeckt auch noch gut, ich will weitertrinken.» Und wieder schluckte und schluckte er. Und er begann zu schrumpfen, unheimlich ein ganz kleines Kindlein wurde aus ihm. Ja, was sollte nun geschehen?
Ch’oe konnte nicht mehr nach Hause zurück, in dem Mantel war er wie begraben, von dem riesigen Zylinder der wurde er zu Boden gedrückt, verzweifelt rang er Arme und Hände, konnte nur laut heulen. Als der Tag sich neigte und Ch’oe nicht zurückgekommen war, machte sich unser jung gewordener Alter Sorgen: «Ist er vielleicht vom Tiger gefressen worden?» dachte er und lief rasch zur Quelle hinauf.
Aber Ch’oe schien spurlos verschwunden, nur der Mantel und sein Hut waren an der Quelle zurückgeblieben. «Seltsam», dachte der jung gewordene Alte, hob den Zylinder hoch und da lag ein winziges Kind darunter, war eingeschlafen und schnaufte laut durch die Nase. Das Kind war wohl, als es keine Kraft mehr hatte zum Schreien, eingeschlafen. «Der Ch’oe Ch’omji wird wohl seine Selbstsucht übertrieben haben. Er hat sicher zu viel getrunken und ist zu diesem kleinen Kerl geworden», dachte der Alte sich; er packte Ch’oe in den Mantel und nahm ihn auf dem Arm mit nach Hause.
Und weil das jung gewordene Paar noch kein Kind hatte und sich deshalb immer Sorgen machte, nahmen sie dieses kleine Kind auf und zogen es gross. Und aus dem selbstsüchtigen Ch’oe Ch’omji wurde dank der Erziehung der aufrechten, fleissigen Leute ein überaus fleissiger, aufrechter Mann.
Aus: Märchen aus Korea, übersetzt und herausgegeben von Hans-Jürgen Zaborowski, Diederichs Verlag, 1975
Auf dieses wunderbare Märchen bin ich sehr zufällig gestossen. Und obwohl es wieder eines jener Märchen ist, das "auf sanften Pfoten" daher kommt, also nicht wirklich viel passiert, hat es mich nicht mehr los gelassen. Deshalb habe ich es auch als erstes Märchen des Monats im 2020 gewählt, das erste Märchen auf der überarbeiteten Homepage.
Die beiden fleissigen Alten, die ihr Leben lang gut gehandelt haben und nun doch Sorge um ihre Existenz haben müssen arbeiten unermüdlich weiter. Und doch lässt sich der Mann von dem wundersamen Vogel ablenken und folgt ihm. Im ganzen Märchen wird nur eine einzige Farbe erwähnt, nämlich die des Vogels: blau. Manchmal wird blau als Farbe der Treue angesehen. Dies würde wunderbar passen, denn die Alten sind sich selbst ein Leben lang treu und auch der liebevolle Umgang des jung gewordenen Mannes, der sich zuerst einen Spass mit seiner Frau erlaubt, sie dann aber fürsorglich zur Quelle führt zeugt von grosser Liebe und Treue. Und dann das Gegenteil durch den geizigen Nachbarn, der mit seinen besten und neusten Kleidungsstücken auch die Quelle sucht und schliesslich nicht weiss wann er zu trinken aufhören soll.
Und schlussendlich wieder die beiden "Alten" die das Richtige tun und dem hilflosen Kleinkind ein gutes Zuhause bieten und ihn so zu einem fleissigen und aufrechten Mann erziehen.
Dieses Märchen eignet sich sicher auch gut, um es der älteren Generation zu erzählen, genau wie den Kindern.
Unsere Grosseltern könnten wir danach fragen:
- Was ihre schönsten Erinnerungen an Leben als junge Erwachsenen sind
- Was sie aus heutiger Sicht anders tun würden, wenn sie die Chance hätten nochmals jung zu sein
- Was sie der jüngeren Generation für Ratschläge / Weisheiten mitgeben wollen
Auch schön:
- Das Märchen an einer Quelle erzählen und danach das frische Wasser geniessen.