In alter Zeit befand sich am Fuss des grossen Berges eine Ebene mit einigen Strohhütten. Eine alte Frau, ihr Mann war bereits gestorben, lebte dort mit ihren drei Kindern. Lemo hiess der Älteste, Leter der nächste und Lere der Jüngste. Die alte Frau verstand sich ausgezeichnet auf die Brokatweberei. Ihre gewirkten Blumen, Vögel und anderen Tiere schienen zu leben. Der Brokat der alten Frau wurde mit Vorliebe gekauft, um daraus Kleidung und Bettzeug zu fertigen. Und so kam es, dass die vierköpfige Familie von dieser Arbeit leben konnte. Eines Tages machte sich die alte Frau auf den Weg zum Markt. Sie wollte Brokat verkaufen. Auf dem Rückweg kam sie an einem Laden vorbei und sah darin ein herrliches, vielfarbiges Bild hängen. Ein hohes Haus mit einem Garten, ausgedehnte Felder, ein Obst- und ein Gemüsegarten waren darauf zu sehen, ein Fischteich, Rinder- und Schafherden, Hühner und Enten. Die Alte war von dem Bild so in den Bann gezogen, dass sie es von dem Erlös aus dem Verkauf des Brokatstoffes erstand. Eigentlich hatte sie das Geld für den Kauf von Reis verwenden wollen - jetzt aber konnte sie nicht anders - sie kaufte das Bild und für das restliche Geld noch etwas Reis. Auf der weiteren Wegstrecke nach Hause blieb sie wiederholt stehen und sah das Bild an. «Könnte ich doch in einem solchen Dorf leben», sagte sie dabei zu sich.
Wieder zu Hause, zeigte die alte Frau das Bild ihren Kindern. Die drei Brüder waren entzückt davon. Zu ihrem ältesten Sohn sagte die Alte: «Lemo, wir sollten lieber in einem solchen Dorf wohnen!»
Doch der junge Mann schüttelte den Kopf und gab zur Antwort: «Mutter, du träumst!»
Zu ihrem zweitältesten Sohn sagte die Alte: «Leter, wie schön wäre es, würden wir in einem solchen Dorf wohnen!»
Doch den Kopf schüttelnd gab dieser zur Antwort: «Mutter, nach unserer Wiedergeburt!»
Mit zusammengezogenen Augenbrauen wandte sich die Alte an ihren jüngsten Sohn: «Lere, wenn ich nicht in einem solchen Dorf wohnen kann, werde ich vor Kummer sterben.»
Lere dachte nach und beruhigte seine Mutter: «Du kannst so ausgezeichnet weben. Die Figuren und Dinge auf deinen Brokatstoffen scheinen wirklich zu sein. Am besten nimmst du das Bild als Vorlage und webst ein entsprechendes Brokatbild. Betrachtest du es dann häufig, wirst du das Gefühl haben, als ob du in diesem schönen Dorf wohnen würdest.»
Die alte Frau überlegte und gab ihrem Sohn recht: «Ich mache mich sogleich an die Arbeit, sonst sterbe ich vor Kummer.»
Die Alte begann, das Brokatbild zu weben. So vergingen Tage, Monate verstrichen. Lemo und Leter waren mit ihrer Mutter unzufrieden. Sie wollten sie daran hindern, an diesem Brokatbild weiterzuarbeiten und sagten: «Mutter, du webst den ganzen Tag, verkaufst aber nichts. Die ganze Familie lebt nur von dem Geld, das wir mit Brennholzsammeln verdienen. Das ist für uns zumühsam!»
Aber der jüngste Bruder Lere gab den beiden zur Antwort: «Lasst Mutter weiter weben, sonst wird sie vor Kummer sterben. Haltet ihr das Brennholzsammeln für zu hart und wollt es nicht mehr tun, kümmere ich mich alleine darum.»
Nun sarnmelte Lere täglich fleissig Brennholz, verkaufte es und ernährte so allein die ganze Familie.
Die alte Frau webte Tag und Nacht. Wurde es dunkel, zündete sie ein Kiefernholzscheit an, damit sie Licht hatte. Ihre Augen litten unter dem Rauch, doch sie wollte nicht aufhören. Nach einem Jahr begannen Tränen auf den Brokatstoff zu tropfen. Auf den Tränenspuren webte sie einen klaren Bach und einen Fischteich. Wieder ein Jahr später trat Blut aus ihren Augen und tropfte auf das Brokatbild; da webte sie auf den Blutspuren eine rote Sonne und prächtige Blumen.
Endlich, nach drei Jahren, war sie mit dem Brokatbild fertig. Wie herrlich war es anzuschauen!
Da war ein grosses Haus zu sehen mit blauen Dachziegeln, grünen Mauern, roten Säulen und einem gelben Tor. Vor dem Tor befand sich ein grosser Garten mit farbenprächtigen Blumen und einem Teich, in dem Goldfische schwammen. Links neben dem Haus war ein Obstgarten mit Bäumen voller roter Früchte und allen Arten von Vögeln. Rechts neben dem Haus befand sich ein Gemüsegarten voll frischem grünen Gemüse
und gelben Gurken. Hinter dem Haus war eine weit ausgedehnte Wiese zu sehen mit Rinderund Schafstall sowie Hühnerund Entengehegen. Die Rinder und Schafe waren am Weiden, die Hühner und Enten fingen Insekten. Unweit vom Haus lagen Maisund Reisfelder. Ein klarer Bach floss am Dorf vorbei, und eine rote Sonne schien vom Himmel herab.
«Wie schön dieses Brokatbild ist!», riefen die drei Brüder lobend. Die alte Frau reckte sich, rieb die Augen und lächelte fröhlich.
Da kam plötzlich ein Sturmwind von Westen her und riss das Brokatbild in die Lüfte. Es flog nach Osten davon.
Die alte Frau stürzte aus dem Haus, griff mit den Händen in die Luft, blickte zum Himmel auf und schrie.
Aber, oh weh! Das Brokatbild verschwand in der Ferne. Ohnmächtig fiel die alte Frau vor der Haustür nieder. Ihr jüngster Sohn hob sie auf und trug sie zu ihrem Bett. Er flösste ihr Ingwersuppe ein, und sie kam allmählich wieder zu Bewusstsein. Sie sagte zu ihrem ältesten Sohn: «Lemo, gehe nach Osten und suche das Brokatbild. Es ist mein Leben!»
Lemo nickte und brach auf. Nach einem Monat gelangte er an einen Pass zwischen zwei hohen Bergen. Dort stand ein Haus aus Stein. Rechts davon stand ein Steinpferd mit weit geöffnetem Maul. Es sah ganz so aus, als ob es die Erdbeeren neben sich fressen wollte. Vor der Haustür sass eine alte Frau mit grauen Haaren. Sie fragte Lemo, wohin er wolle. Er gab zur Antwort, er sei auf der Suche nach dem Brokatbild seiner Mutter, an dem sie drei Jahre lang gewebt habe. Ein Sturmwind habe es ostwärts gefegt.
Die alte Frau sagte: «Das Brokatbild haben die Feen auf dem Sonnenberg im Osten an sich gebracht. Sie finden es wunderschön und wollen es als Webvorlage benutzen. Es ist nicht leicht, zu ihnen zu gelangen! Zunächst müssen zwei deiner Zähne gezogen und in das Maul des Steinpferdes eingesetzt werden. Hat das Pferd Zähne, dann kann es kauen. Hat es zehn Erdbeeren gefressen, dann kann es dich zu den Feen bringen. Unterwegs musst du den Feuerberg erklimmen. Steigt das Pferd durch die Flammen, musst du die Schmerzen stillschweigend ertragen und darfst nicht wehklagen, sonst wirst du verbrennen. Nach dem Feuerberg musst du ein weites Meer überwinden. Die Wellen türmen sich hoch auf und führen Eis mit. Du musst den Wogen widerstehen und darfst nicht zittern, sonst verschlingen sie dich. Nach dem weiten Meer erreichst du den Sonnenberg. Dort kannst du von den Feen das Brokatbild zurückverlangen.»
Lemo dachte an seine Zähne, das lodernde Feuer und den hohen Wellengang und bekam Angst.
Die alte Frau blickte ihm freundlich ins Gesicht und sagte: «Mein Kind, du kannst das nicht ertragen. Gehe nicht dorthin! Ich will dir ein Kästchen mit Gold schenken. Damit kannst du ein besseres Leben führen!» Sie ging ins Haus, holte ein eisernes, mit Gold gefülltes Kästchen und reichte es Lemo.
Er machte sich auf den Heimweg. Unterwegs aber kam ihm der Gedanke, er könnte doch ein bequemeres Leben führen, wenn er, anstatt das Gold unter vier aufzuteilen, es für sich alleine behielt. So machte er sich auf den Weg in eine grosse Stadt.
Die alte Frau war inzwischen bis auf die Knochen abgemagert und hütete das Bett.
Zwei Monate wartete sie vergebens auf Lemo, dann sagte sie zu ihrem zweitältesten Sohn: «Leter, gehe nach Osten und suche mein Brokatbild. Es ist für mich lebenswichtig!» Leter nickte, und nachdem er mit den Reisevorbereitungen fertig war, machte er sich auf den Weg. Nach einem Monat erreichte er den Pass zwischen den beiden hohen Bergen und sah die Frau vor dem steinernen Haus sitzen. Was sie Lemo erzählt hatte, erzählte sie auch ihm. Leter bekam ebenfalls grosse Angst. Auch ihm gab die alte Frau ein Kästchen voll Gold. Er nahm es, und ebenso wie sein Bruder ging er damit nicht nach Hause, sondern in die grosse Stadt. Die alte Frau lag im Bett, zum Skelett abgemagert, und wartete wiederum zwei Monate. Jeden Tag blickte sie zur Haustür hinaus und weinte. Sie vergoss so viele Tränen, dass sie schliesslich erblindete.
Da sagte eines Tages Lere zu seiner Mutter: «Mein ältester und mein zweitältester Bruder sind nicht zurückgekommen. Ihnen ist unterwegs wohl etwas zugestossen. Jetzt will ich gehen und das Brokatbild holen.»
Die alte Frau dachte nach und sagte: «Gut Lere, gehe! Achte auf deine Gesundheit. Die Nachbarn werden sich um mich kümmern.»
Lere machte sich auf den Weg. Aufrecht und mit grossen Schritten ging er ostwärts. Nach nur einem halben Monat war er am Pass und sah dort die alte Frau vor dem Haus aus Stein sitzen. Sie erzählte ihm dasselbe wie seinen Brüdern und sagte: «Mein Kind, dein ältester und dein zweitältester Bruder nahmen jeder ein Kästchen Gold. Mache es auch so und kehre nach Hause zurück!»
Aber Lere sagte entschlossen: «Nein, ich will das Brokatbild holen», hob einen Stein auf und schlug damit so lange gegen zwei seiner Zähne, bis sie ausfielen. Er steckte sie dem Steinpferd ins Maul. Langsam begann es sich zu bewegen und reckte den Kopf nach den Erdbeeren. Als das Pferd zehn davon gefressen hatte, sass Lere auf, griff nach der Mähne und feuerte das Reittier an. Das Pferd wieherte und galoppierte nach Osten. Drei Tage und drei Nächte später waren sie am Feuerberg. Rote Flammen schlugen sie, und zischend verbrannte ihnen die Haut. Aber Lere biss die Zähne zusammen und ertrug die Schmerzen. Nach einem halben Tag war der Feuerberg überwunden, das Pferd sprang mit Lere in das weite Meer. Die Wellen trieben Eis und schlugen gegen sie, aber weder vor der Kälte noch vor den Schmerzen schrak Lere zurück. Nach einem halben Tag waren sie jenseits des Meeres.
Sie befanden sich vor dem Sonnenberg Auf dem Gipfel stand ein goldfarbenes Haus. Drinnen hörte man Mädchen singen und lachen. Lere trieb das Pferd an, und es sprang und stieg zum Himmel. Kurz darauf standen sie vor dem Tor des Hauses. Lere sprang vorn Pferd, trat ins Haus und sah in der Halle viele schöne Feen Brokat weben. Das Brokatbild seiner Mutter hing mitten in der Halle und diente als Vorlage.
Die Feen überraschte das plötzliche Auftauchen Leres. Er erklärte ihnen den Grund für sein Kommen, und eine der Feen sagte, sie wären noch diesen Abend mit dem Weben fertig. Dann könne Lere das Brokatbild zurückbekommen. Er solle bis zum nächsten Morgen warten.
Lere war einverstanden und wurde von den Feen mit schmackhaften heiligen Früchten bewirtet. Müde schlief er auf einem Sessel ein. In der Nacht hing in der Halle eine leuchtende Perle und erhellte den ganzen Raum.
Die Feen webten fleissig. Eine in roter Kleidung war die flinkste. Sie war als erste fertig und machte sich daran, ihr eigenes Gewebe und die Vorlage miteinander zu vergleichen. Aber sie fand das Brokatbild der alten Frau bei Weitem schöner: Die Sonne erstrahlte in rotem Glanz, der Fischteich war klar, die die Blumen sahen ganz frisch aus, die Rinder und Schafe wirkten lebendig. Die Fee sagte zu sich selbst: «Wie schön wäre es doch, wenn ich in dieser Brokatbild-Landschaft leben könnte», und webte ihr Ebenbild in die Vorlage ein - sie stand am Fischteich und bewunderte die frischen Blumen.
Als Lere erwachte, war es bereits tiefe Nacht. Die Feen gingen zu Bett. Beim Licht der leuchtenden Perle sah er auf einem Tisch das Brokatbild seiner Mutter liegen. Er dachte bei sich: «Was tue ich, wenn sie mir morgen den Brokat nicht zurückgeben? Mutter hütet seit langem das Bett. Ich kann nicht noch länger warten.»
Lere stand auf, faltete den Brokat seiner Mutter zusammen und steckte ihn in seine Tasche. Vor dem Haus stieg er auf das Pferd und galoppierte im Mondschein Richtung Heimat.
Die Zähne zusammengebissen, überwand er das weite Meer und den Feuerberg. Kurz darauf war er am Pass. Die alte Frau stand vor dem steinernen Haus und sagte lachend: «Mein Kind, steige rasch vom Pferd!» Lere tat es. Die alte Frau zog dem Pferd die beiden Zähne aus und pflanzte diese Lere wieder in den Mund. Das steinerne Tier bewegte sich nicht mehr. Die alte Frau ging ins Haus und kehrte mit einem Paar Schuhe aus Hirschleder zurück. Die gab sie Lere und sagte: «Mein Kind, ziehe die Schuhe an und gehe rasch nach Hause. Deine Mutter schwebt in Lebensgefahr!»
Lere zog die Schuhe an, und in Sprüngen ging es davon. Kurz darauf war er zu Hause. Die Mutter lag im Bett, zum Skelett abgemagert und furchtbar schwach. Sie stöhnte und rang mit dem Tod. Lere trat ans Bett, sprach seine Mutter an, nahm das Brokatbild aus der Tasche und zeigte es ihr. Der blendende Glanz des Brokats erhellte die Augen der alten Frau. Sie stand auf und betrachtete lächelnd das Bild. Dann sagte sie: «Hier ist es zu dunkel. Gehen wir in die Sonne.»
Mutter und Sohn gingen hinaus und entfalteten das Brokatbild auf dem Boden. Eine wohlriechende Brise wehte herüber. Das Bild wurde grösser, immer grösser und bedeckte bald die ganze Ebene. Die Strohhütte war verschwunden. Stattdessen erschienen ein goldfarbenes Haus, ein Blumengarten, ein Obstgarten, ein Gemüsegarten, Felder, Rinder- und Schafherden - alles genauso wie auf dem Brokatbild. Die alte Frau und deren Sohn standen vor dem Haus. Am Fischteich sah die alte Frau plötzlich ein Mädchen, das dort die Blumen betrachtete. Sie ging zu ihm hin und sprach es an. Das Mädchen erzählte, es sei eine Fee, habe sein Ebenbild in den Brokat gewebt und sei so hierher gekommen.
Die alte Frau lud das Mädchen ein, mit in das Haus zu kommen. Dort wohnten sie zusammen. Lere und die schöne Fee wurden Mann und Frau. Die alte Frau lud auch die armen Nachbarn ein, in diesem neuen Dorf zu wohnen, denn diese hatten sie während ihrer Krankheit gepflegt.
Eines Tages kamen zwei Bettler vorbei, es waren Lemo und Leter. Sie hatten von dem Gold der alten Frau in der Stadt in Saus und Braus gelebt. Nach kurzer Zeit war alles aufgebraucht gewesen, und nun mussten sie bettelnd umherziehen. Als die beiden nun in diesem schönen Dorf ihre Mutter und Lere mit seiner jungen Frau im Garten Lieder singen sahen, dachten sie an das Vergangene und machten sich beschämt davon.
Aus: M.-L. Forster-Latsch und H. Latsch, Drachenmädchen und Schlangenkerle, Märchen und Erzählungen der Randvölker Chinas, Frauenfeld 2008
Eine Geschichte so reich wie das Brokatbild das die alte Frau angefertigt hat. Den ganzen inneren Reichtum, den sie in ihrem Leben angesammelt hat, steckt sie in dieses Kunstwerk. Und zum Schluss wird es Wirklichkeit.
Dieses Märchen eignet sich dazu:
- ein eigene Handarbeit anzufertigen
- ein Bild des Traumhauses inklusive Garten anzufertigen und zu überlegen, was davon wirklich umgesetzt werden kann
- Jede/r darf etwas zeigen, das ihm/ihr besonders wichtig ist und erzählen weshalb