· 

Engelstränen (verfasst von Nicole Krähenmann)

„Genug für heute!“ meint die Alte mit den langen schneeweissen Haaren und klappt das Buch zu. Als sie aufblickt und die enttäuschten Gesichter sieht, schmunzelt sie und erklärt: „Morgen lese ich weiter Geschichten über die Menschen vor!“ Die Kleinen geben sich damit zufrieden, breiten ihre Flügel aus und fliegen davon. Alle, bis auf den Jüngsten.

 

„Wann dürfen wir endlich auch zur Erde fliegen und mithelfen? Es ist schliesslich Weihnachten“ erklärt er„und an Weihnachten braucht es doch sicher besonders viele Engel auf der Erde, oder?“

 

Der alte Engel weiss, dass es Zeit wird, den Kleinen die Erde zu zeigen. Nicht jene aus den Märchenbüchern die sie ihnen vorliest, in denen das Happy End am Schluss wartet. Nein, die wahre Erde. Und doch, alles in ihr drin, will die reinen Seelchen im Glauben lassen, alles sei wunderbar auf der Erde. „Noch nicht!“ flüstert sie - mehr zu sich selbst - und fliegt dann ohne ein weiteres Wort davon.

 

Der Jüngste der Engel bleibt allein zurück. Er kann sich mit dieser Antwort nicht abfinden und beschliesst heimlich zur Erde zu fliegen. Der Weg ist kaum zu verfehlen und nicht so weit, wie er gedacht hatte.

 

Mit weit aufgerissenen Augen staunt er über die Schönheit dieses Planeten: Wasser, Wälder, Wiesen, Farben und Düfte, Tiere, Pflanzen und Menschen. Er hat von all dem gehört, aber es jetzt endlich selber zu sehen lässt seine Augen vor Freude blitzen. Sein ganzes Wesen strahlt  und wo immer er vorbei fliegt, bleibt die Natur nicht unberührt davon. Er lächelt, als er bemerkt, dass Tiere und Pflanzen ihn sehen und spüren können - nicht aber die Menschen.

 

Was die grossen Engel an Weihnachten auf der Erde wohl genau machen? Der kleine Engel weiss es nicht und fliegt ziellos umher, stets darauf bedacht, sich nicht von einem der Grossen erwischen zu lassen.

 

Irgendwann kommt er in eine grosse Stadt. Alles ist wunderschön geschmückt für das bevorstehende Weihnachtsfest. Aber je länger er in der Stadt herumfliegt, desto verwirrter wird er. Er sieht keinen einzigen Menschen lächeln. Alle rennen gestresst umher und einige streiten sogar auf offener Strasse.

 

Ob ihn die grossen Engel angelogen haben? Ist Weihnachten gar nicht das "Fest der Liebe"?

 

Verunsichert landet er in einem Hintergässchen. Seine nackten Füsse berühren zum ersten Mal den Boden der Erde. Es ist ein angenehmes Gefühl barfuss über kalten knirschenden Schnee zu gehen. Als er in Gedanken versunken weiter andächtig einen Fuss vor den anderen setzt, hört er plötzlich eine Stimme: „Lass mich nicht allein!“ Der kleine Engel erschrickt.

 

Vor sich auf dem Boden im Schnee entdeckt er ein in Lumpen gekleidetes Menschenkind. „Du kannst mich sehen?“ fragt er überrascht. Das Kind, ein Mädchen, hustet. Und hört nicht mehr damit auf. Der kleine Engel spürt förmlich, wie schnell das Leben aus ihr weicht.

„Nein!“ entfährt es ihm.

 

Und dann wird er wütend und traurig weil die Erde, so gar nicht seinen geliebten Geschichten entspricht. Er setzt sich zu dem Mädchen auf den Boden, nimmt ihre Hand sanft in seine und wärmt sie auf. Sein Herz schmerzt. Er kennt dieses Gefühl noch nicht. Das Gefühl, welches Menschen Mitleid nennen.

 

Der Schmerz in seiner Brust wird grösser, immer grösser. Er hat Angst, sein Herz zerspringe. Und als er den Schmerz kaum mehr aushalten kann, beginnt er zu weinen. Einige seiner heissen Tränen fallen auf die Hand des Mädchens und sie flüstert: „Fröhliche Weihnachten!“

Dann schliesst sie ihre Augen und ein letzter Atemzug entfährt ihr. Der kleine Engel weint noch viel mehr, aber das Menschenkind regt sich nicht mehr.

 

Als jemand neben ihm landet, erkennt der kleine Engel durch seinen Tränenschleier die Alte, die ihm erst noch an diesem Morgen Geschichten über das Leben auf der Erde vorgelesen hatte. Er fühlt sich, als ob seither Hunderte von Jahren vergangen seien.

 

Der alte Engel schaut ihn liebevoll an und streicht ihm übers Lockenköpfchen: „Vergiss nie, was du heute gelernt hast, Kleiner! Wir haben viel zu tun, bis die Menschen sich erinnern, dass Liebe das höchste Gut ist. Wenn wir das schaffen, werden kleine Mädchen nicht mehr in  Kälte erfrieren müssen.“ Sie kniet in den Schnee, nimmt das Mädchen auf die Arme und steht auf: „Wir sollten jetzt zurück nach Hause!“ Aber der kleine Engel schüttelt energisch den Kopf: „Sie hat mich gebeten, sie nicht allein zu lassen!“

 

Die Alte lächelt wissend: „Engel weinen nicht. Und doch hast du geweint und einige deiner Tränen haben dieses Kind berührt.»

Sie zeigt auf das Kind in ihren Armen. Staunend betrachtet der kleine Engel das Mädchen. Sie strahlt von innen her und wunderschöne Flügel zieren ihren Rücken. „Sie ist ein Engel!“ haucht er. Und es wird ihm ganz warm ums Herz.

 

Wenn du diese Geschichte  "Engelstränen" öffentlich vorlesen/abgeben willst, bitte ich dich um vorgängige Kontaktaufnahme mit mir.
Denn anders als bei den Volksmärchen liegen die Rechte dieser Geschichte bei mir. Danke!


Ich habe lange nach einem Monatsmärchen für diesen Dezember gesucht und bin irgendwie nie richtig fündig geworden. Diese Geschichte wollte ich zuerst aber auch nicht posten. Es ist eine Geschichte, die ich zum ersten Mal etwa mit 17 geschrieben habe und seither so ca. 1x pro Jahrzehnt überarbeitet habe. Bisher hat noch kaum jemand sie gelesen oder gehört und wie sie ankommt, kann ich nicht voraussehen.

Es braucht einen grossen Schritt für mich diese Geschichte, in die Sammlung aufzunehmen und doch, irgendwie gehört sie da hin.

 

Diese Geschichte eignet sich sicher dazu:

- etwas Organisieren, um bedürftige Menschen zu unterstützen

- Engel zu basteln

ruhige / stressfreie Momente in der Adventszeit einzuplanen

- sich zu überlegen, wie man anderen Wesen die Erde erklären würde

 

 

MärchenKoffer Nicole Krähenmann  | 8635 Dürnten ZH | brief@maerchenkoffer.ch