Vor langer Zeit lebten einmal zwei Männer, die waren Nachbarn. Der eine war zu allen freundlich, der andere aber listig und böse. Eines Tages machten sie zusammen einen Spaziergang am Fluss und fanden eine kleine Schwalbe mit gebrochenem Flügel. Der freundliche Mann bückte sich und hob die Schwalbe vorsichtig auf. «Was willst du mit diesem Vogel?», fragte der andere. «Er ist verletzt und wird bald sterben und was hast du dann davon?»
Der freundliche Mann aber sagte: «Das werden wir schon sehen», nahm die Schwalbe vorsichtig mit und trug sie nach Hause.
Dort pflegte er sie, bis sie wieder ganz gesund war. Dann trug er sie nach draussen und als sie mit den Flügeln flatterte, sprach er: «Flieg, kleine Schwalbe, flieg nach Hause.»
Da sprach die Schwalbe: «Ich danke dir. Du warst sehr gütig zu mir. Zum Dank will ich dir dieses Samenkorn schenken.»
Sie legte ihm einen Gurkensamen in die Hand und flog davon.
Der Mann ging in den Garten, pflanzte das Samenkorn und schon bald wuchs daraus eine lange Ranke. Der Mann goss sie fleissig. Sie blühte und kurz darauf bildeten sich schöne Gurken, die jeden Tag grösser wurden.
Als sie reif waren, pflückte der Mann eine Gurke und trug sie nach Hause, um sie zu versuchen. Aber als er sie aufschneiden wollte sprang sie wie von alleine auf und lauter Gold und Silber kam heraus.
Der Mann freute sich so sehr darüber, dass er zu seinem Nachbarn ging, um ihm davon zu erzählen.
Dieser hörte zu und mit jedem Wort wurde er neidischer, und er beschloss auf die gleiche Art reich zu werden.
Er lief am Fluss auf und ab, suchte eine verletzte Schwalbe, aber weil er keine fand, holte er seine Steinschleuder und schoss auf eine Schwalbe. Als der verletzte Vogel auf die Erde fiel, hob der Mann ihn auf und trug ihn nach Hause und sagte zu ihm: «Ich werde dich nun pflegen, aber denke daran: Ich will dafür die gleichen Gurkensamen, die mein Nachbar erhalten hat.»
Jeden Tag nun erinnerte er die Schwalbe an das Versprechen, und als der Flügel der Schwalbe geheilt war, ging er mit ihr in den Garten und der Vogel sprach: «Ich gebe dir diesen Samen hier. Stecke ihn in die Erde und du wirst deinen Lohn erhalten.»
Mit diesen Worten gab er dem Mann ein Samenkorn und flog davon.
Der Mann eilte nun in den Garten und pflanzte das Samenkorn. Schon bald wuchs eine Ranke aus dem Boden und wuchs und wuchs — geradewegs in den Himmel. Der Mann freute sich und dachte: «Mein Lohn wird bestimmt viel grösser sein als der von meinem Nachbarn.»
Weil er aber keine Früchte an der Ranke fand, beschloss er, hinaufzuklettern und nachzusehen. «Ich werde das Gold und Silber des Mondes ernten», rief er und begann an der Ranke hinaufzuklettern.
Immer höher kletterte er, immer höher wuchs die Ranke, bis sie bis zum Mond hinaufgewachsen war. Doch in dem Augenblick, als der Mann einen Fuss auf den Mond setzte, verschwand die Ranke. Und der Mann?
Der sitzt heute noch dort oben auf dem Mond. Wenn du genau hinschaust, kannst du ihn sehen.
Aus: Fassung Djamila Jaenike, nach: Mondgesichter, H. Krahé, 1998
Eine wunderbare Weisheitsgeschichte die klar aufzeigt, dass man nie den Weg eines anderen beneiden soll sondern seinen eigenen gehen darf. Ausserdem gefällt mir, dass diese Weisheitsgeschichte den Mythos um den "Mann auf dem Mond" aufgreift und erklärt :-).
Dieses Märchen eignet sich sicher dazu:
- darüber zu sprechen was der Unterschied zwischen den Nachbarn war
- ein (anonymes?) Geschenk für die eigenen Nachbarn herstellen
- Gurken setzen und/oder essen
- den Mann im Mond suchen und sich Geschichten über sein Leben auszudenken