Am Fusse des Olivenberges lag der Olivensee. Er wurde nur von klaren Bergquellen gespeist, aber dennoch war sein Wasser stets trübe, und man konnte nicht bis auf den Grund sehen. Das Land rings um den Olivensee gehörte reichen Wucherern, die es für viel Geld an arme Bauern verpachteten. Sie verlangten dafür so viel, dass den Bauern oft nicht genug zum Leben blieb.
In einer kleinen Hütte am See lebte eine arme Witwe mit ihrem einzigen Sohn. Auch sie hatten ein kleines Stück Land gepachtet und jeden Morgen ging der Junge aufs Feld und arbeitete dort bis zum Abend. Sein Weg führte ihn am See entlang, und dabei überlegte er oft: „Weshalb ist das Wasser des Olivensees so trübe, obwohl er nur von klaren Bergquellen gespeist wird? Und warum ist auch unser Leben hier so trübselig? Weshalb haben meine Mutter und ich kaum genug zu essen, obwohl ich Tag für Tag schwer arbeite? Hängt all dies vielleicht sogar zusammen?“ Immer wieder grübelte er darüber nach, aber konnte keine Antwort darauf finden, auch in seinem Dorf konnte ihm niemand weiterhelfen.
Eines Tages aber erfuhr er, dass in den weit entfernten westlichen Bergen ein Berggeist lebte, der den Menschen ihre Fragen beantwortete. Da beschloss der Junge, diesen Berggeist aufzusuchen. Doch bevor er sich auf den Weg machte, arbeitete er eine Zeit lang noch mehr als sonst, um etwas für seine Mutter zu sparen, damit sie während seiner Abwesenheit keinen Hunger leiden müsse.
Als er dachte, genügend beisammen zu haben, verabschiedete er sich von ihr und machte sich auf den Weg.
Er ging immer in die Richtung der untergehenden Sonne. Sein Weg führte zunächst am See entlang und gegen Abend erreichte er ein kleines Häuschen am Ende des Sees. Er klopfte und bat um ein Nachtlager.
Die Frau, der das Haus gehörte, nahm ihn gerne auf. Am nächsten Morgen fragte sie ihn, wohin er gehe.
„Ich will zum Berggeist der westlichen Berge“, antwortete er. „Ich möchte ihn fragen, weshalb das Wasser des Olivensees so trüb ist und weshalb meine Mutter und ich kaum zum Leben habe, obwohl ich Tag für Tag schwer arbeite.“
„Könntest du auch eine Frage von mir mitnehmen?“ fragte die Frau. „Weißt du, ich habe eine Tochter, die ist schön und lieb, aber sie kann nicht sprechen. Vielleicht kann dir der Berggeist sagen, was geschehen muss, damit meine Tochter ihre Sprache findet.“
„Ich will deine Frage mitnehmen“, versprach der Junge. Er verabschiedete sich von der Frau und setzte seinen Weg fort. Der stieg nun langsam aber stetig an. Gegen Abend erreichte er ein kleines Haus, das einem alten Mann gehörte. Im Garten lag ein kleiner Zierteich und daneben wuchs ein Orangenbaum, der ganz prächtig blühte. Der alte Mann nahm den Jungen für die Nacht auf und am nächsten Morgen fragte er ihn: „Wohin willst du denn gehen, Junge? Weiter oben leben doch gar keine Menschen mehr! Du findest dort weder Arbeit noch etwas zu essen.“
„Ich will zum Berggeist der westlichen Berge“, antwortete der Junge. „Ich möchte ihn fragen, weshalb das Wasser des Olivensees immer so trübe ist, obwohl der See doch nur von klaren Bergquellen gespeist wird und weshalb meine Mutter und ich kaum genug zum Leben haben, obwohl wir Tag für Tag schwer arbeiten.“
„Dann könntest du von mir auch eine Frage mitnehmen“, meinte der alte Mann. „Weißt du mein Orangenbaum blüht jedes Jahr ganz prächtig, aber er hat noch nie eine Frucht getragen. Vielleicht kann der Berggeist dir sagen, was geschehen muss, damit der Baum endlich Früchte trägt.“
„Ich will deine Frage mitnehmen“, versprach der Junge. Er verabschiedete sich von dem alten Mann und setzte seinen Weg fort. Immer höher hinauf stieg er, in Gegenden, wo es gar keine Bäume mehr gab, nur noch Steine und einige wenige Gräser und Blumen.
Am Nachmittag erreichte er einen reissenden Bergbach. Er suchte nach einer Stelle, an der er den Bach überqueren konnte, aber er fand keine. Der Junge bemerkte, dass am Himmel dunkle Wolken aufzogen. Er suchte Schutz unter einem grossen Felsen. Wenig später wurde es ganz finster und ein schweres Gewitter brach los. Ein Blitz folgte dem anderen, das Rollen des Donnerst erfüllte die Luft und der Regen prasselte vom Himmel. Zum Glück war der Junge unter seinem Felsen gut geschützt.
Nach einiger Zeit liess der Regen nach und der Himmel wurde lichter. Bald danach schien auch die Sonne wieder. Als ihre Strahlen auf das Wasser des Bergbaches trafen, da schäumte es plötzlich und etwas Rosarotes tauchte aus der tiefe empor. Es war eine riesige Schlange. Der Junge erschrak, doch die Schlange sprach ihn freundlich an: „Du musst keine Angst vor mir haben“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Ich habe noch keinem Lebewesen etwas Böses getan. Im Gegenteil, ich kann dich ans andere Ufer des Baches bringen, wenn du das möchtest.“
„Gerne“, antwortete der Junge, „denn ich möchte zum Berggeist der westlichen Berge gehen und ihn fragen, weshalb das Wasser im Olivensee immer so trübe ist, obwohl der See doch nur von klaren Bergquellen gespeist wird und weshalb meine Mutter und ich nicht genug zu essen haben obwohl wir Tag für Tag schwer arbeiten.“
„Dann könntest du auch von mir eine Frage mitnehmen", sagte die Schlange. "Weisst du, ich lebe nun schon tausend Jahr an diesem Ort und ich habe noch keinem Lebewesen etwas zuleide getan. Ich habe alle, die das wollten, von einem Ufer des Baches zum anderen gebracht. Doch nun bin ich dieses Dasein hier leid. Vielleicht kann der Berggeist dir sagen, was geschehen muss, damit ich endlich von hier erlöst werde."
"Ich will deine Frage mitnehmen", versprach der Junge. Die Schlange trug ihn ans andere Ufer, dann verabschiedete er sich von ihr und setzte seinen Weg fort.
Er stieg noch höher hinauf, überquerte einen hohen Pass und gelangte in ein felsiges Tal. In der Mitte des Tales erblickte er ein Schloss aus Bergkristall, das in der Sonne leuchtete. Er ging hin. Am Eingang stand ein Wächter. "Wohnt hier der Berggeist der westlichen Berge?" fragte der Junge. "Natürlich", antwortete der Wächter. "Wer sonst sollte hier wohnen? Was möchtest du hier?"
"Ich will dem Berggeist einige Fragen stellen", sagte der Junge. Daraufhin führte ihn der Wächter ins Schloss. Er gelangte in einen weiten Saal mit kristallenen Wänden. Und da kam ihm auch schon der Berggeist entgegen, in der Gestalt eines alten Mannes mit langen weissen Haaren und weissem Bart, in einem langen weissen Gewand.
"Junge", sprach er mit ausgebreiteten Armen, "komm zu mir und sage mir war, dich hierherführt!"
"Ich habe vier Fragen, auf die ich Antwort suche", sagte der Junge.
"Warte", meinte der Berggeist. "Ehe du deine Fragen stellst, muss ich dir eine Regel sagen, die hier oben gilt: Eine Frage darfst du sagen, sind es zwei, darfst du’s nicht wagen, hast du drei, so darfst du fragen, doch bei vier musst du verzagen. Ungerade sei, mein Freund, die Anzahl deiner Fragen, denn ist die Zahl gerade, musst du es dir versagen. Du sagtest du hast vier Fragen. Eine davon musst du weglassen – überlege dir gut, welche."
Der Junge überlegte. Die eigene Frage, derentwegen er den weiten Weg unternommen hatte, wollte er selbstverständlich stellen. Also musste eine der drei anderen weggelassen werden. Doch je länger er überlegte, desto mehr begriff er, wie wichtig diese Fragen für all diejenigen waren, diese ihm aufgetragen hatten. E schien ihm unmöglich, eine davon wegzulassen. So entschloss er sich schliesslich, die eigene Frage wegzulassen und stellte nur die der drei andren. Der Berggeist gab ihm Antwort.
Der Junge bedankte sich, dann verabschiedete er sich und machte sich auf den Heimweg. Er überquerte den hohen Gebirgspass und stieg zum reissenden Bergbach hinab. Dort erwartete ihn bereits die Schlange. "Nun", fragte sie, "was hat der Berggeist gesagt? Wie kann ich von hier erlöst werden?"
"Der Berggeist hat gesagt, um erlöst zu werden müsstest du noch zwei gute Taten vollbringen", antwortete der Junge. "Welche?" fragte die Schlange begierig. "Sage sie mir!"
"Die erste wäre, mich wieder ans andere Ufer zu bringen", sagte der Junge. Das tat die Schlange sogleich und fragte dann: "Und die zweite?" "Du müsstest die Perle abwerfen, die du zwischen deinen Augen trägst und die bei Nacht strahlt." "Das kann ich nicht allein", sagte die Schlange. "Bitte hilf mir dabei."
So fasste der Junge die Perle und zog daran und die Schlange zog in die andere Richtung. Sie mussten sich gewaltig anstrengenden, bis die Perle schliesslich abfiel. Und in diesem Augenblick verwandelte sich die Schlange. Es wuchsen ihr Schuppen und Flügel. Sie wurde zu einem mächtigen geflügelten Drachen, erhob sich in die Luft und flog davon. Ehe sie die Wolkendecke durchstiess, wandte sie sich nochmals zu dem Jungen um und rief: "Die Perle darfst du behalten, zum Dank!" Dann verschwand sie zwischen den Wolken.
Der Junge nahm die Perle, die nun, da es Nacht wurde, ganz herrlich leuchtete und setzte seinen Weg fort. Nach einer Zeit erreichte er das Haus des alten Mannes mit dem Orangenbaum. Auch der Alte erwartete ihn bereits: "Nun", fragte er, "was hat der Berggeist gesprochen? Was muss geschehen, damit der Baum endlich Früchte trägt?"
"Der Berggeist hat gesagt, dass du zunächst das Wasser aus deinem Zierteich ablassen musst", antwortete der Junge. "Wenn du dann im Schlamm unter dem Teich gräbst, so wirst du neun grosse Tonkrüge voller Gold und Silbermünzen finden. Die musst du heraufbefördern. Dann wird aus der Tiefe der Erde eine klare Quelle sprudeln und den Zierteich aufs Neue füllen. Mit ihrem Wasser sollst du den Orangenbaum giessen, dann wird er Früchte tragen."
Der alte Mann machte sich sogleich an die Arbeit und der Junge half ihm dabei. Sie arbeitete den ganzen Tag, gruben im Schlamm und schleppten die schweren Tonkrüge herauf. Als endlich der neunte oben war, da sprudelte aus der Tiefe der Erde eine klare Quelle und füllte den Zierteich. Und als der alte Mann nun seinen Orangenbaum mit diesem klaren Wasser goss, da war es wie ein Wunder. Im Nun fielen die Blüten ab und der Baum stand voller reifer Früchte!
Der alte Mann dankte dem Jungen, der der Bote des Berggeistes gewesen war. "Nimm so viel von den Gold –und Silbermünzen, wie du nur tragen kannst!" rief er. Da füllte der Junge seine Taschen mit Münzen, bedankte und verabschiedete sich und setzte den Heimweg fort.
Als er das Haus am Ende des Olivensees erreichte, erwartete ihn die Frau bereits. "Nun", fragte sie,"was hat der Berggeist gesagt? Was muss geschehen, damit meine Tochter ihre Sprache findet?"
"Der Berggeist hat gesagt, dass deine Tochter sprechen wird, sobald sie den Mann erblickt, für den sie bestimmt ist." antwortete der Junge. In diesem Augenblick ging eine Tür auf und ein junges Mädchen schaute herein: "Mutter, wer ist das?" fragte sie.
"Aber Kind", rief die Mutter, "du sprichst ja!" Und sie dankte dem Berggeist, der ihrer Tochter nicht nur die Sprache sondern auch noch einen Mann geschenkt hatte. Die beiden jungen Leute schauten sich an und sie gefielen einander gut. So feierten sie Hochzeit und blieben noch einige Tage im Haus der Frau.
Dann aber wollte der Junge endlich zu seiner Mutter heimkehren. So machte er sich mit seiner jungen Frau auf den Weg. Doch als sie abends die Hütte der Mutter erreichten, da fanden sie die alte Frau erblindet vor. Denn der Junge war viel länger fortgeblieben, als er gedacht, und seine Mutter hatte aus Kummer und sorge so viel geweint, dass ihre Augen erblindet waren. So konnte sie seine schöne junge Frau, ihre Schwiegertochter, gar nicht sehen, nur ihre helle Stimme hören. Und auch das viele Gold und Silber, das ihr Junge heimbrachte und die wunderschöne perle die nun da es Nacht wurde wieder herrlich leuchtete, konnte sie nicht sehen, sondern nur betasten.
Der Junge hielt seiner Mutter die strahlende Perle vor die Augen. Das half nichts. "Ach wenn du doch wieder sehen könntest!" rief er verzweifelt. Doch sowie er diesen Wunsch ausgesprochen , da war es als fiele ein Schleier von ihren Augen. "Nun sehe ich wieder!" rief sie. "Dich und die Perle und deine schöne Frau und das viele Gold und Silber."
Der Junge aber fragte sich. "Sollte diese Perle etwa Wünsche erfüllen?" Er wollte es gleich versuchen und so sprach er: "Wenn doch nur all die reichen Wucherer von hier verschwunden wären!"
Und tatsächlich, die Perle erfüllte auch diesen Wunsch. Sowie er ihn ausgesprochen hatte, waren die reichen Wucherer aus der Gegend verschwunden. Und seltsam, sobald sie fort waren, wurde das Wasser des Olivensees von Tag zu Tag klarer, bis er schliesslich so klar war, dass man bis auf den Grund sehen konnte. Das Leben der Menschen am Olivensee wurden von nun an so süss wie Honig.
Aus: Das Märchenschiff, Märchen aus fernen Ländern, Gidon Horowitz, Verlag Herder im Breisgau, 1993
Dieses Märchen gibt es in verschiedenen Versionen. Die Version die du oben liest, stammt aus dem Buch "Das Märchenschiff" von Gidon Horowitz. Ich habe die Geschichte auch schon anders gelesen. Dort war es dann kein "Berggeist" sondern ein Weiser und keine Schlange, welche die Perle verschenkt, sondern ein Drache. Aber die Version spielt keine Rolle, denn der Grundtenor der Geschichte ist der gleiche.
Dieses Märchen berührt mich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen der See selber, der so trübe ist und es bleibt, so lange die "reichen Wucherer" da sind. Aber zum anderen auch die Reise des jungen Mannes. Wen er trifft und wie er schlussendlich entscheidet, dass seine Frage jene ist, die er weglässt.
Weshalb diese Geschichte nicht:
- auf einem Spaziergang mit verschiedenen Pausen erzählen (z.B. in Verbindung mit der Geschichte Orangenschnitze essen etc.)
- zum Anlass nehmen (anonym) für einen Bekannten oder Nachbarn etwas Gutes tun (Karte in den Briefkasten, Blumenstrauss vor die Türe, ...)