Vor langer Zeit herrschte in einem Königreich grosse Not. Eine Dürre war über das Land gekommen, keine Wolke zeigte sich am Himmel und die Menschen starben vor Hunger. Der König wusste keinen Rat mehr.
Da erliess er den Befehl, dass alle alten Menschen das Land verlassen mussten oder sie würden getötet: «Alte Menschen sind zu nichts mehr
nütze», sprach er. «Sie essen den anderen das Brot weg, das wir so bitter brauchen.»
Da verliessen die Alten und Schwachen das Land und wer nicht mehr gehen konnte, wurde von den Soldaten des Königs dem Henker überbracht.
Nun lebte aber in diesem Land ein junger Mann namens Atanas, der seinen Vater über alles liebte. Um nichts in der Welt hätte er ihn dem Henker übergeben. Er kniete vor seinem Vater nieder und
sprach: «Mein geliebter Vater, du kennst den Befehl des Königs. Doch lieber will ich mich selbst opfern, als dich durch den Henker sterben zu sehen.»
Und Tränen liefen ihm über die Wangen. Der alte Vater war gerührt über die Liebe seines Sohnes und sprach: «Höre, mein Sohn, im Keller steht ein grosses Fass, darin will ich mich verstecken, und
was du an Nahrung übrig hast, das bring mir und so soll niemand mich entdecken.»
So, wie es der Vater geraten hatte, wurde es gemacht. Jeden Tag brachte der Sohn ihm etwas Essen in den Keller und die Zeit verging, ohne dass jemand etwas von dem alten Mann wusste. Der König
hatte jedoch eine Tochter und wollte sie bald verheiraten. Da sein Schwiegersohn später einmal König werden würde, wünschte er sich einen klugen Mann für seine Tochter. Er liess alle jungen
Männer auf sein Schloss rufen und sprach: «Ich werde euch drei Aufgaben stellen und wer diese lösen kann, soll meine Tochter zur Frau bekommen und mein Nachfolger werden. Morgen warte ich vor
Sonnenaufgang auf euch. Wer als erster die aufgehende Sonne erblickt, hat die erste Aufgabe gelöst.»
Als die jungen Männer dies gehört hatten, gingen sie nachdenklich wieder nach Hause und alle wollten am nächsten Tag versuchen, die Aufgabe zu lösen. Auch Atanas kam nach Hause und als er am
Abend in den Keller ging, um seinem Vater ein wenig Essen zu bringen, sprach dieser: «Nun, mein Sohn, du siehst nachdenklich aus, was bedrückt dich denn?»
Da erzählte der Sohn dem Vater von der Aufgabe des Königs und der Vater rief aus. «Das ist ganz einfach! Alle werden nach Osten blicken,
weil die Sonne dort aufgeht, du aber sollst nach Westen schauen, denn dort wird der erste Sonnenstrahl erglänzen.»
Und so geschah es. Als sich die jungen Männer am nächsten Morgen versammelten, schauten alle gebannt nach Osten, während Atanas zu den Berggipfeln im Westen schaute und schon bald sah er den
ersten Sonnenstrahl glänzen und er rief froh. «Majestät, die Sonne geht auf!»
Da lächelte der König zufrieden und sprach: «Das hast du schlau gemacht. Nun wollen wir sehen, wie du die zweite Aufgabe löst.»
Er wandte sich den jungen Männern zu und sagte «Derjenige, der morgen zu mir kommt, nicht in Schuhen und nicht ohne Schuhe, der hat die zweite Aufgabe gelöst.»
Die Männer gingen davon und zerbrachen sich den Kopf, wie sie die Aufgabe lösen sollten. Atanas kehrte nach Hause zurück und erzählte dem Vater von dem zweiten Rätsel.
«Das ist nicht schwer», sprach der Alte da lächelnd. Er nahm ein Paar Schuhe, schnitt unten sorgfältig die Sohlen aus, und als Atanas sie am nächsten Morgen anzog, war er nicht ohne Schuhe und
doch nicht in Schuhen. Die anderen jungen Männer kamen in einem Schuh oder in Socken. Atanas aber trat vor den König, verneigte sich vor ihm, zeigte seine Fusssohlen und selbst der König musste
lachen.
«Du bist ein gewitzter junger Bursche! Jetzt aber hört die dritte und letzte Aufgabe: Kommt morgen alle zum Schloss und bringt meiner Tochter die schönste und nützlichste Blume.»
Der alte Vater wartete schon neugierig darauf, was Atanas berichten würde. Der junge Mann aber war bekümmert und erzählte von der letzten Aufgabe. «Es gibt so viele Blumen auf der Welt, hunderte
und aberhunderte von Blumen. Niemand kann wissen, welche der König am meisten schätzt.»
Der Alte dachte nach und schliesslich fragte er: «Sag mir, sprach der König von der schönsten oder von der nützlichsten Blume?»
«Er sagte, wir sollten die schönste und nützlichste Blume bringen.»
Da lächelte der Alte und sprach: «Dann ist es einfach, denn was gibt es Schöneres und Nützlicheres als die Getreideähre! Pflücke morgen früh eine reife Kornähre und bringe sie der
Prinzessin.»
Am nächsten Morgen ging Atanas über die Felder, am Hut trug er eine goldene Kornähre und als die anderen ihn sahen, lachten sie ihn aus. Sie zeigten ihre wunderbaren, duftenden Blumen in allen
Farben und meinten: «Das ist doch gar keine Blume, nur eine gewöhnliche Ähre.»
Der König aber ging Atanas entgegen und rief: «Du hast es erraten! Du hast die schönste und nützlichste Blume der Welt gebracht.»
Da zog Atanas die Kornähre von seinem Hut und übergab sie der Prinzessin und in seiner Freude sprach er: «Dies alles habe ich meinem
alten Vater zu verdanken.»
Da wurde es still, denn auch der König hatte die Worte gehört und er sprach: «Ich hätte mir denken können, dass ein junger Mann nicht so viel Klugheit besitzt. Nun sprich, wo versteckst du deinen
Vater?»
Der junge Mann fiel vor dem König auf die Knie, bat um Vergebung und erzählte alles wahrheitsgetreu.
Der König hörte zu und im Stillen schämte er sich für den schlimmen Befehl, den er einst gegeben hatte. Dann hiess er Atanas aufstehen, drückte ihn an sich und sprach: «Ich kann dir keinen
Vorwurf machen, denn du hast aus Liebe gehandelt. Nun habe auch ich eingesehen, dass alte Menschen in allen Dingen erfahren sind und wir ihre Weisheit brauchen. Bring deinen Vater zu mir ins
Schloss. Von heute an soll er mein Ratgeber sein.»
Da holte Atanas mit Freuden seinen alten Vater aus dem dunklen Keller und dieser tauschte gerne das Fass mit dem königlichen Schloss. Er diente dem König als guter Ratgeber und später, als Atanas
König wurde, stand er ihm mit seiner Weisheit zur
Seite. So kehrten Glück und Zufriedenheit in das Land ein und keiner der Alten musste mehr um sein Leben bangen.
Aus: Blumenmärchen Djamila Jaenike, Mutabor Verlag 2014
Wieder einmal eine Weisheitsgeschichte und kein Zaubermärchen. Aber was für eine wunderbare Geschichte es doch ist. Auch in unserer Gesellschaft beobachte ich immer wieder, dass die Weisheit des Alters nicht oder nicht mehr geschätzt/zelebriert/genutzt wird. Das ist schade, denn so viel Wissen geht mit den älteren Generationen verloren. Was mir ausserdem gefällt, ist die Symbolik der schönsten Blume. Natürlich ist in einem Land, das von einer Dürre und damit einhergehenden Hungersnot heimgesucht wird, die Kornähre die schönste und wichtigste der Pflanzen/Blumen. So kommt es halt immer auf die äusseren Umstände an, oder die Geschichte die man mit einer Blume verbindet, die ausmacht, wie man zu ihr steht.
Diese Weisheitsgeschichte eignet sich bestens dazu:
- die eigenen Grosseltern zu bitten, einem etwas beizubringen oder aus ihrem reichen Leben zu erzählen
- Brot zu backen, vielleicht sogar das Mehl selbst zu mahlen dafür
- Menschen im eigenen Umfeld zu fragen, welches die Lieblingsblume ist und weshalb ...und sie ihnen dann schenken.