Jahr um Jahr hatte der alte Wahu die Schwärme der Wildgänse ziehen sehen und das Stampfen unübersehbarer Büffelherden gehört.
«So wie diese Wildgänse davonziehen, werde auch ich bald davonziehen», sagte er sich.
Alles, was ihm im Leben lieb gewesen, hatte die Zeit auf ihren unerbittlichen Flügeln davongetragen. Und eines Abends, als gerade die Sterne aufgingen, senkten sich lange Schatten über das Indianerlager und brachten ihm die Botschaft des grossen Manitou: «Der Grosse Geist erwartet dich, rüste dich für deine letzte Reise! Nimm Abschied, Wahu, nimm Abschied...», flüsterten ihm die Schatten zu.
«Von wem sollte ich Abschied nehmen?, fragte der Greis traurig.
«Meine Söhne und Töchter haben längst anderswo ihre Zelte errichtet, und hier wird keiner weinen, wenn ich gehe...»
Wahu erhob sich, bückte sich nach seinem abgenutzten Paddel und ging langsam zum Fluss.
Aus dem Wasser stieg grauer Nebel auf, als Wahu zum letzten Mal sein Kanu vom Ufer abstiess. Lautlos floss der Strom und trug das Boot zu den Ewigen Jagdgründen.
Und doch...hätte der alte Indianer zurückgeschaut, würde er gesehen haben, dass am Ufer jemand hinter ihm herlief und ihm mit traurigen Augen nachblickte. Aber der Greis hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen. Er überliess das Boot dem Fluss. Die Strömung riss es mit sich und trug es immer schneller und schneller dem Ziel zu. Und während sein Kanu den donnernden Wasserfällen zujagte, schwebte über dem Brausen und Dröhnen leise und wehmütig Wahus Todesmelodie.
Aber ausser Wahu hatte sich auch noch ein anderer in den Fluss gestürzt, und auch er war von der Strömung in den Abgrund der Stürzenden Wasser getragen worden.
Wahu sank in dem ohrenbetäubenden Getöse tiefer und tiefer, bis das Kanu endlich auf einer milchweissen Fläche von selbst Halt machte. Der Weisse Fluss, dachte Wahu, jetzt werde ich bald am Ziel sein.
Da sah er zwei Felsen vor sich, die ein grosses Tor bildeten. Wahu liess sich von den Wellen ans Ufer tragen und kaum war er ausgestiegen, da traten die Felsen auseinander, und zwei stattliche Krieger standen in hellem Licht vor ihm.
«Wir sind die Hüter der Ewigen Jagdgründe», sagte der eine zu Wahu. «Wir haben dich schon erwartet.»
„Bist du allein gekommen», fragte der andere. «Hast du nicht einen Freund mitgebracht?»
«Es hat sich niemand mehr um mich gekümmert, geschweige denn mir das letzte Geleit gegeben», antwortete der alte Indianer.
«So? Und wer ist das da im Wasser, der dich so traurig anschaut?»
Wahu fuhr herum - und blickte in die treuesten aller Augen, die treuesten, die er je gesehen hatte.
«Mein Hund! Das ist mein Hund», flüsterte er tief bewegt.
Er stieg zu dem Weissen Fluss hinunter und schloss seinen vierbeinigen Kameraden in die Arme.
«An ihn hatte ich mit keinem Gedanken gedacht», sagte er dann zu den Wächtern.
«Und doch hat er dich am meisten geliebt...», hörte Wahu aus der Ferne die mächtige Stimme Manitous, des Grossen Geistes.
Und so, mit seinem besten Freund an der Seite, hat der alte Indianer die Ewigen Jagdgründe bezogen, von denen es keine Wiederkehr gibt.
Aus: Marlies Arnold, 3-Minuten-Märchen aus aller Welt, Könemann Verlag 2001
Bestimmt habt ihr bemerkt, dass es im Oktober oder November jeweils ein Märchen gibt, das in irgendeiner Form mit der Unterwelt oder dem Tod zu tun hat. Der Tod gehört zum Leben. Und gerade in der dunklen Jahreszeit und speziell gegen Ende Oktober / Anfang November, gedenken wir den Menschen und Tieren, die unser Leben bereichert haben, bevor sie weitergezogen sind. Dieses Märchen berührt mich sehr, umso mehr da wir seit Mai 2020 selber einen Hund haben und ich weiss, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt. (Auf dem Foto siehst du übrigens unsere Bailey).
Dieses Märchen eignet sich aus meiner Sicht dazu:
- eine Kerze anzuzünden für alle Menschen und Tiere, die weitergezogen sind
- den Menschen im eigenen Leben danke zu sagen mit einer Zeichnung, einem Brief oder einem Telefonat
- in einem Tierheim aushelfen oder mit einem Nachbarshund spazieren zu gehen