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Der Baum Ungalli (Afrika)

Nach einer Dürre war das Land trocken und unfruchtbar geworden, und die Tiere fanden kaum noch Futter. Eines Tages beschlossen alle Tiere, ausser dem Löwen, den Dschungel zu verlassen und auf der Suche nach Nahrung das Land zu durchstreifen. Der Löwe, der König des Dschungels, entschied sich, zurückzubleiben und sein Reich weiter zu beherrschen.

 

So zogen der Elefant, die Giraffe, das Kaninchen, die Schildkröte, der Affe, das Zebra und die Gazelle gemeinsam los. Sie überquerten den grossen Fluss und zogen Tag für Tag über das flache Land ohne eine Ahnung, wohin sie ihre Suche bringen würde.

 

Nach einiger Zeit kamen sie an eine grosse Steppe, und die Tiere erblickten in der Ferne etwas, was wie ein sehr grosser Baum aussah - der einzige weit und breit. Als sie sich diesem Baum näherten, sahen sie, dass er voll von den schönsten Früchten hing, die sie jemals gesehen hatten. Die Früchte waren so rot die Granatäpfel, so orange wie Mangos, gelb wie Bananen, lila wie Pflaumen und dufteten wie alle Früchte der Welt zusammen.

 

Aber trotz dieser Schönheit und Üppigkeit des Baumes mussten die Tiere vor Enttäuschung und Verzweiflung weinen, denn er war so hoch und die Zweige so weit vom Boden entfernt, dass selbt der Hals der Giraffe nicht lang genug war, um auch nur die unterste Frucht zu erreichen. Der Stamm des Baumes war zudem so glatt, dass selbst der geschickteste Affe nicht daran hochklettern konnte.

 

Die ausgehungerten Tiere brachen unter dem Baum zusammen. "Was sollen wir tun?" klagten sie. Da sagte die alte Schildkröte: "Meine Ururgrossmutter hat mir einmal von einem Baum wie diesem hier erzählt - mit schönen, köstliche Früchten. Aber nur diejenigen, die den Namen des Baumes wussten, konnten die Früchte ernten."

 

"Wie können wir nur den Namen des Baumes herausfinden?" fragten die Tiere einstimmig. Die alte Schildkröte antwortete: "Der Löwe weiss den Namen. Jemand muss zurück in den Dschungel laufen und ihn fragen." Man beschloss, die Gazelle solle losrennen, weil sie die Schnellste war. Die Gazelle war stolz auf ihre Schnelligkeit und rannte zurück zum Dschungel, zu der Stelle am Fluss, wo der Löwe sein Reich hatte.

 

"Was willst Du?" fragte der Löwe, als die Gazelle bei ihm ankam. "Grosser König", antwortete die Gazelle. "Die Tiere sind sehr hungrig. Wir suchen schon seit Tagen nach Futter. Endlich haben wir den schönsten Baum gefunden, an dem die wunderbarsten bunten Früchte hängen. Aber erst wenn wir den Namen des Baumes wissen, können wir diese Früchte erreichen, und bis dahin müssen alle Tiere hungern."

 

Der Löwe schwieg und dachte einen Moment lang nach. Dann sagte er: "Ich will dir sagen, was du wissen musst, denn ich will nicht, dass die Tiere meines Reiches weiter Hunger leiden. Aber ich sage dir den Namen nur ein einziges Mal, denn ich will mich nicht wiederholen, noch jemand anderem diesen besonderen Namen verraten. Du musst ganz aufmerksam zuhören und ihn behalten. Der Name des Baumes lautet: Ungalli."

 

"Ungalli", wiederholte die Gazelle. Dann dankte sie dem Löwen und rannte zurück durch den Dschungel und über die Ebene. Dabei dachte sie, wir klug es von den Tieren gewesen sein, ein so schnelles Tier wie sie loszuschicken, und wie glücklich und dankbar sie sein würden, wenn sie mit dem Namen des Baumes zurückkehrte. Sie war so in ihren Gedanken, dass sie das Kaninchenloch an der Stelle übersah, wo die Tiere ruhten. Sie trat in das Loch, überschlug sich und landete hart am Fuss des Baumes. Sofort scharrten sich die Tiere um sie herum.

 

"Wie heisst der Baum?" schrien sie voller Hoffung und Erwartung. Aber die Gazelle starrte die Tiere nur benommen und verwirrt an. "Wie heisst der Baum?" wiederholten die hungrigen Tiere wieder und wieder. "Ich kann mich nicht mehr erinnern", stammelte die Gazelle endlich leise. "Ich habe den Namen vergessen."

 

Die Tiere stöhnten vor Hunger. "Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen jemand anderen losschicken, jemanden, der den Namen nicht vergisst -ganz gleich, was passiert", sagten sie. Man beschloss, den Elefanten loszuschicken, weil der ja bekanntlich nie etwas vergisst. Und so trottete der Elefant los über die verlassene Ebene, voller Stolz auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis.

 

Als er an die Stelle beim Fluss kam, wo der Löwenkönig wohnte, knurrte dieser: "Was willst du?" "Oh, König", seufzte der Elefant. "Die Tiere haben solchen Hunger, und ich ..." "Ich weiss, ich weiss", unterbrach ihn der Löwe ungeduldig. "Ich werde dir den Namen des Baumes mit den wunderbaren Früchten nennen, aber vergiss ihn nicht, denn ich werde in niemand anderem mehr sagen. Der Name des Baumes lautet Ungalli".

"Das werde ich nicht vergessen, ich vergesse doch nie etwas", sagte der Elefant hochmütig.

 

Dann machte ersich auf den Weg durch de Dschungel und über die Ebene und dachte bei sich: "Wie könnte ich das vergessen! Ich kenne doch die Namen aller Bäume in Dschungel." Und er begann, sie alle aufzuzählen. Ganz beeindruckt von seinem eigenen Gedächtnis nannte er nun die Namen aller anderen Bäume in Afrika und dann erinnerte er sich nach und nach an alle Bäume in der Welt. In Gedanken verloren, trat er

achtlos in das gleiche Loch, in das nur einen Tag zuvor die Gazelle gestürzt war. Doch im Gegensatz zum schlanken Bein der Gazelle war der Fuss des Elefanten so gross, dass er genau hineinpasste und der Elefant ihn nicht wieder herausbekam. Er zog und zerrte, aber der Fuss sass fest.

 

Diejenigen Tiere, die nicht vor Hunger schon viel zu schwach waren, rannten auf den Elefanten zu und riefen: "Wie heisst der Baum?" Wütend zog und zerrte der Elefant so lange an seinem Fuss, bis er ihn endlich befreit hatte. "Wie heisst der Baum?" schrien die Tiere wieder. "Ich kann mich nicht erinnern", sagte der Elefant mürrisch und rieb sich den verletzten Fuss. Die Tiere waren inzwischen zu erschöpft und ausgehungert, um sich zu beklagen. Einige begannen zu weinen. Sie wussten nun nicht mehr, was sie tun sollten.

 

Da sagte eine sehr junge Schildkröte: "Ich ziehe jetzt los und werde versuchen, den Namen des Baumes herauszufinden. "Du bist viel zu jung, zu klein und zu langsam" erwiderten die Tiere. "Nun ja", sagt die Schildkröte, "aber meine Urururgrossmutter, die ja von dem Baum wusste, hat mir beigebracht, wie man sich am besten an etwas erinnert."

 

Ohne auf eine Antwort der anderen Tiere zu warten, machte sich die kleine Schildkröte langsam auf den Weg über die Ebene. Schrittchen für Schrittchen legte sie die Strecke bis zu der Stelle am Fluss zurück, wo der Löwenkönig lebte.

 

Der König war überaus missmutig, als er die Schildkröte erblickte, und brüllte gleich: "Wenn du den Namen des Baumes erfahren willst, vergiss es! Ich habe ihn schon zweimal genannt. Und ich habe die Gazelle und den Elefanten gewarnt, dass ich niemand anderem mehr sagen werde, dass der Baum Ungalli heisst, und daher werde ich dir den Namen auch nicht verraten!"

 

Die junge Schildkröte dankte dem Löwen höflich für seine Aufmerksamkeit. Auf dem Rückweg durch den Dschungel wiederholte sie immer wieder: "Ungalli, Ungalli, der Baum heisst Ungalli." Sie durchquerte die grosse Ebene und sagte immer wieder: "Ungalli, Ungalli, der Baum heisst Ungalli." Auch als sie müde und durstig wurde, hörte die kleine Schildkröte nicht auf zu murmeln: "Ungalli, der Baum heisst Ungalli", weil ihre Urururgrossmutter ihr beigebracht hatte, dass man sich so am besten die Dinge merken kann.

 

Als sie in das gleiche Kaninchenloch fiel, in das die Gazelle hineingestolpert war und das den Elefanten gefangengehalten hatte, kletterte die kleine Schildkröte einfach wieder heraus und sagte: "Ungalli, Ungalli der Baum heisst Ungalli."

 

Keines der Tiere hatte bemerkt, dass die kleine Schildkröte näher kam. Sie lagen unter dem Baum und dachten nur noch über ihr grosses Unglück nach, doch da kam die Schildkröte und verkündete mit lauter Stimme: "Ungalli, Ungalli, der Baum heisst Ungalli."

 

Verdutzt blickten die Tiere auf. Dann sahen sie, wie sich die Äste des Baumes herabsenkten, so dass sie die wunderbaren Früchte pflücken konnten, die so rot waren wie Granatäpfel, so orange wie Mangos, gelb wie Bananen, lila wie Pflaumen und so süss dufteten wie alle Früchte der Welt zusammen.

 

Die Tiere frassen, bis ihre Bäuche prall gefüllt waren. In ihrer Freude und Erleichterung hoben sie die kleine Schildkröte hoch in die Luft und tanzten mit ihr immer wieder um den Baum herum. Dabei wiederholten sie singend: "Ungalli, Ungalli, der Baum heisst Ungalli" - weil sie es nie wieder vergessen wollten.

Und sie haben es auch nicht wieder vergessen.

 

Aus: Baummärchen aus aller Welt, Djamila Jaenike, Mutabor Verlag, 2. Auflage, 2013


Eigentlich eine Weisheitsgeschichte und kein Märchen... und doch konnte ich es nicht lassen, diese Geschichte in die Sammlung aufzunehmen. Gerade für Kinder so toll zu hören, dass es schlussendlich nicht das schnellste Tier oder jenes mit dem besten Gedächtnis war, welches die Tiere gerettet hat, sondern das Tier mit der grössten Ausdauer, das einfach einen Schritt vor den anderen setzte und sich durch nichts vom Weg abbringen liess. Eine gute Metapher fürs Leben...auch für uns Erwachsene, oder?

 

Diese Weisheitsgeschichte eignet sich unbedingt dazu:

- Früchteteller mit exotischen Früchten herzustellen und diese genüsslich zu verspeisen

- Das "Telefonspiel" zu spielen oder andere Gedächtnisspiele

- Die besagten Tiere in einem Dokumentarfilm oder in einem Zoo besuchen zu gehen

 

 

MärchenKoffer Nicole Krähenmann  | 8635 Dürnten ZH | brief@maerchenkoffer.ch