Vor langer, langer Zeit war Tibet öde und arm, das Land war kalt, es gab keine Bäume, keine Sträucher, keine Blumen, es flossen keine
Flüsse, und nirgendwo war guter Boden, so dass die Leute kaum etwas anbauen konnten. Sie hatten Hunger, sie froren und wussten nicht recht, was es eigentlich bedeutet, glücklich zu sein. Trotz
allem aber glaubten sie daran, dass es irgendwo auf der Welt auch Glück geben müsste.
Lange schon erzählten sich die alten Leute, dass das Glück ein schöner Vogel sei, der weit im Osten in den Schneebergen lebe, und sie glaubten daran, dass mit diesem Vogel das Glück komme. Wohin
auch immer der Vogel fliege, das Glück sei in seinem Gefolge. Immer wieder zog einer von ihnen aus, um diesen Vogel zu suchen, aber keiner von ihnen kehrte jemals wieder zurück.
Es verbreitete sich das Gerücht, der Vogel des Glücks werde von drei alten Ungeheuern bewacht, die jeden, der da ankomme, allein schon durch ihren Atem töten könnten, mit dem sie ihn anhauchten.
Eines Tages nun schickten die armen Leute eines Dorfes einen besonders klugen Jungen aus, den Vogel des Glücks zu suchen. Wangjia, so hiess der Junge, wurde bei seiner Abreise von den Mädchen des
Dorfes mit Gerstenschnaps verabschiedet, und die Frauen streuten Gerstenkörner auf sein Haupt und wünschten ihm eine gute Reise,
Wangjia zog frohen Mutes durch die Lande und wanderte viele Tage, bis er schliesslich in der Ferne einen grossen Schneeberg sah, der in der Sonne glitzerte, als ob Silber auf ihm läge. Da aber
trat auch schon ein altes Ungeheuer ihm auf seinem Weg entgegen, schrecklich anzusehen und mit einem schwarzen Bart am Kinn. «Wer kommt denn da?» krächzte das Ungeheuer wie eine riesige Krähe,
«wer wagt es da, hierherzukommen? Was suchst du hier?» Der Junge liess sıch nicht einschüchtern und gab zur Antwort: «Mein Name ist Wangjia, ich bin gekommen, um den Vogel des Glücks zu
suchen!»
«Ha, ha», lachte da das Ungeheuer, «wie kann es ein so kleiner Knirps wie du überhaupt wagen, bis hierherzukommen?» Das Ungeheuer schüttelte seinen zottigen Kopf und sagte weiter: «Wenn du den
Vogel ded Glücks finden willst, dann musst du zuerst die Mutter von Luosang töten. Wenn du das nicht tust, wirst du bestraft. Ich selbst will dich kleinen Kerl zwar am Leben lassen, aber du wirst
dann über Geröllhalden laufen müssen, neunhundert Meilen weit. Hast du das geschafft, dann sind auch deine Kräfte am Ende.»
Da antwortete Wangjia: «Ich liebe meine eigene Mutter sehr, niemals werde ich die Mutter eines anderen töten. Tu, was du willst!» Da geriet das Ungeheuer in Zorn und der bisher ganz glatte Weg
verwandelte sich in eine Geröllhalde mit Steinen, die so scharf und so spitz waren wie Messer und Nadeln. Wangjia wanderte aber weiter, nach hundert Meilen waren seine Schuhsohlen schon ganz
durchgelaufen, nach weiteren hundert Meilen waren seine Füsse blutig und zerschnitten, und nach dreihundert Meilen waren auch seine Hände völlig zerschunden.
Wangjia konnte kaum mehr. Schon dachte er ans Umkehren, aber er wusste, dass die Leute zu Hause grosse Hoffnungen in ihn setzten, und erwarteten, dass er den Vogel des Glücks nach Hause bringe.
Wangjia legte sich auf die Erde und bewegte sich kriechend weiter. Bald waren seine Kleider zerrissen und seine Knie zerschunden. Schliesslich aber hörte die Geröllhalde auf, und da sah er auch
schon das zweite Ungeheuer, das einen braunen Bart hatte und dessen Stimme sich wie der heulende Nordwind anhörte. «Wenn du den Vogel des Glücks finden willst, dann musst du zuerst den alten
Silang vergiften. Tust du es nicht, so lasse ich dich verhungern!»
Wangjia schaute dem Ungeheuer ins Gesicht und sagte: «Ich liebe meinen eigenen Grossvater sehr und werde nie den Grossvater eines anderen töten. Du kannst schreien so viel du willst, ich tue dies
nicht. Daraufhin blies das Ungeheuer, dass Wangjias Beutel mit den letzten Brotresten vom Wind hinweggetragen wurde. Vor seinen Augen verwandelten sich plötztıch die blauen Berge und die grünen
Flüsse in eine kahle endlose Wüste, in der nichts Essbares mehr zu finden war. Wangjia brach erneut auf, zu einem Marsch ins Ungewisse.
Nach den ersten hundert Meilen begann sein Magen vor Hunger zu knurren, nach zweihundert Meilen Weg verschwamm alles vor den Augen, und er sah Sterne tanzen, und nachdem er dreihundert
zurückgelegt hatte, war er so hungrig, dass ein ganz stechender Schmerz in seinen Magen fuhr und er meinte, seine Eingeweide würden mit Messern zerschnitten. Jeder der einmal gehungert hat,
weiss, wie schlimm dies ist. Als er endlich zu einem Fluss kam, trank er eine grosse Menge kalten Wassers und zog weiter. Inzwischen aber schwanden seine letzten Kräfte, er bestand nur noch
aus Haut und Knochen.
Da trat ihm das dritte alte Ungeheuer in den Weg. «Welch ein waghalsiger Mensch wagt sich hierher?», donnerte das Ungeheuer. «Mein Name ist Wangjie, ich suche den Vogel des Glücks.»
«Wenn du den sehen willst, dann musst du mir zuerst die Augäpfel der schönen Baima bringen. Kannst du dies nicht, so werde ich deine Augen erblinden lassen!» Wangjia war entsetzt und sagte: «Niemals, niemals werde ich die Augen eines schönen Mädchens verwunden oder oder
zerstören!»
Das alte Monster schäumte vor Wut. Mit aufgeblasenen Backen hauchte das Ungeheuer den Jungen an, so dass er blind wurde. «Dies
wird wohl die letzte Prüfung gewesen sein», dachte er und tastete sich weiter, ohne das Geringste sehen zu können. Er hatte sich aber die Richtung gemerkt, die Richtung des Sonnenaufgangs, und so stolperte er vorwärts. Halb mit
seinen Händen tastend, halb auf dem Boden kriechend, schaffte er weitere neunhundert Meilen. Endlich kam er an den Fuss eines Berges, von dem angenehm kühlende Lüfte wehten.
Und da hörte er die wunderbare, süsse Stimme eines Vogels, er war am Ziel, es war der Vogel des Glücks. «Mein liebes Kind, sei willkommen. Du hast den langen Weg zu mir geschafft, dies ist ja
kaum zu glauben!» Überwältigt von Freude, rief Wangjia aus: «Ja, ich habe es geschafft. Nur dich wollte ich sehen! Meine Lieben zu Hause möchten dich wenigstens einmal begrüssen, sie warten
darauf Tag und Nacht. Ich bitte dich, komm mit mir!» Da liebkoste der Vogel des Glücks die Wangen des Jungen mit seinen Schwingen und begann zu singen. Da wurden die Augen Wangjias wieder gesund,
und er sah besser, als er jemals zuvor gesehen hatte. Alle seine Wunden waren plötzlich geheilt, und er fühlte sich munter und stärker als je zuvor.
Der Vogel des Glücks brachte Wangjia Fleisch, Früchte und Kuchen, hiess ihn, auf seinen Rücken zu steigen, und flog mit ihm durch die Lüfte zum Dorf Wangjias. Bald landeten sie auf der Spitze
eines Hügels beim Eingang des Dorfes. «Was ist wohl dein sehnlichster Wunsch?», fragte der Vogel des Glücks. «Was wir alle seit Langem ersehnen», sagte Wangjia, «das sind Wärme und Geborgenheit,
Wälder und Felder, Flüsse und Seen, Gräser und Blumen!»
Da schaute der Zaubervogel vom Hügel aus ins Land und stiess mit lauter und kraftvoller Stimme drei Rufe aus. Beim ersten Ruf brach die Sonne golden und strahlend durch die Wolken hervor und
schickte ihre wärmenden Strahlen ins Land. Beim zweiten bedeckten sich die Berge mit Wäldern, man sah plötzlich Hirsche und andere wilde Tiere, und singend stiegen Lerchen in die sonnigen Lüfte.
Beim dritten Ruf überzog sich das Land mit saftigen Weiden, durchströmt von klaren Flüssen, und man sah weisse Kaninchen fröhlich im Gras miteinander spielen.
Seit dieser Zeit sind die Leute glücklich, und nie mehr brauchten sie so grosse Not zu leiden wie in früheren Zeiten.
Aus: J. Guter: Tibetische Märchen, S. Fischer Verlag, 1997
Was für ein wunderbares Märchen aus Tibet. Wangjia muss viel ertragen, bis das Glück in sein Land einkehrt. Und doch lässt er sich nie von seinem Weg abbringen, egal was die Ungeheuer ihm antun. Ein Märchen das guttut, gerade auch wenn vielleicht nicht alles so läuft, wie man es sich vorgestellt hatte.
Es eignet sich sicher dazu:
- einen Glücksvogel zu zeichnen/basteln
- besprechen, was einen glücklich macht
- eine Glücksdose erstellen mit Erinnerungen an wunderbare Momente
- eine Glücksdose erstellen mit Dingen, die einen glücklich machen und bei Bedarf einen Zettel ziehen