Es war einmal ein König, der ritt von seinem Schloss allein hinaus in den Wald. Da gefiel es ihm so gut, dass er nicht an die Heimkehr dachte und immer weiter ritt und als er endlich nach Hause wollte, fand er nicht mehr zurück.
Vergeblich suchte er den Heimweg, bis es finstere Nacht Wurde und er halten musste. Unter einem Baume machte er Rast, band sein Ross an den Stamm, ohne Speise und Trank erwartete er den Morgen.
Am nächsten Tage ritt er wieder fort und fort, aber er fand nicht aus dem weiten Walde, so dass er abermals die Nacht unter einem Baume zubrachte. Am dritten Morgen waren er und sein Ross schon recht müde. Was blieb ihm indes übrig, als den ganzen Tag nach einem Ausweg zu suchen? Erst als die finstere Nacht hereinbrach und er nicht mehr weiterkonnte, hielt er an und legte sich schlafen. Doch schon um elf Uhr wurde er geweckt und als er aufblickte, stand vor ihm ein dunkler Jäger, der fragte: »König, was machst du hier?«
»Drei Tage schon reite ich durch den Wald, aber ich finde nimmer zurück«, antwortete er.
»Wenn du mir das gibst, was dir daheim zuerst begegnet, so bringe ich dich nach Hause«, sprach der dunkle Jäger, und in seiner Not willigte der König ein. Da sagte der Jäger: »Reit mir nach!« Und während der König so lange vergeblich den Heimweg gesucht hatte, waren sie jetzt im Nu aus dem Walde.
Die jüngste Königstochter hatte schon oft voll Sehnsucht nach ihrem Vater ausgeschaut. Als sie ihn jetzt von ferne kommen sah, liess sie schnell ein Ross satteln und ritt ihm voll Freude entgegen. Sobald sie ihn erreicht hatte, sprang sie ab und lief auf ihn zu. Wie erschrak sie aber, als er sie zurück' stiess und ausrief: »Weiche von mir, besser wäre mir ein Hund begegnet!« „Vater, bin ich dir denn weniger wert als ein Hund?«‚ fragte sie traurig.
Da sprach der König bekümmert: »Ich habe dem Jäger das zusagen müssen, was mir daheim zuerst begegnet. Ohne seine Hilfe wäre ich nicht mehr aus dem Walde gekommen, doch jetzt gehörst du ihm.«
Der dunkle Jäger aber sagte zu der Königstochter, die bis ins tiefste Herz erschrocken war: »Drei Tage hast du noch Zeit, dann wird ein weisser Wolf kommen, auf den musst du aufsitzen, und er wird dich zu mir bringen.« Damit entfernte er sich und war bald ihren Augen entschwunden.
Nach drei Tagen kam ein weisser Wolf gelaufen, die jüngste Tochter des Königs zu holen. »Lieber Vater, lebe wohl«, sprach sie, »wer weiss, ob wir uns jemals wiedersehen?« Dann musste sie aufsitzen, und der Wolf lief mit ihr Tag und Nacht, über Berg und Tal. Als er am nächsten Morgen noch immer weitertrabte, sagte sie: »Wolf, alle meine Glieder schmerzen mich schon! Sind wir noch nicht bald an Ort und Stelle?«
Da sprach der Wolf: »Sei still, sonst werfe ich dich ab!«
Wieder ritt sie den ganzen Tag und die lange Nacht. Da war sie so müde geworden, dass sie nochmals fragte: »Wolf, kommen wir noch nicht bald an Ort und Stelle?«
»Sei still, sagte der Wolf, »sonst werfe ich dich ab!«
Weiter ging es Tag und Nacht. Jetzt konnte sie sich nicht mehr auf dem Rücken des Tieres halten und fragte zum dritten Male: »Wolf, sind wir noch nicht an Ort und Stelle?« Da warf er sie weit ab und lief fort.
Nun war sie allein und ruhte drei Tage aus von dem langen Ritt. Als sie endlich weiterging, sah sie sich am Ufer eines weiten Meeres. Sie wanderte am Strande entlang, bis es Nacht wurde und sie an ein Häuschen kam, aus dem Licht schimmerte. Als sie eintrat, um ein Nachtlager zu bitten, wohnte
hier der Mond.
»Was suchst du da?«, fragte er das Mädchen. Sie brachte ihre Bitte vor und fragte: »Habt Ihr nicht den weissen Wolf gesehen?«
»Heute nicht«, entgegnete der Mond, »weil es so trüb war. Komm her zum Tisch und iss!«
Sie assen ein Huhn, der Mond aber nahm sorgfältig alle Beinchen zusammen, band sie ihr in ein Taschentuch und sprach: »Bewahre die Knöchelchen gut, du wirst sie noch brauchen!«
Als die Zeit für den Mond gekommen war und er scheinen sollte, nahm er das Mädchen auf den Rücken und trug sie zur Sonne. "
Abermals kam sie an ein kleines Häuschen, in dem ein Licht brannte. Sie ging hinein und bat um ein Nachtlager. Auch die Sonne fragte: »Was suchst du hier?«, und das Mädchen entgegnete wie am vorigen Abend: »Habt Ihr nicht den weissen Wolf gesehen?«
»Nein, heute nicht«, sagte die Sonne, »ich habe nicht geleuchtet, weil es so trüb war. Komm aber jetzt her und iss mit mir!«
Auch hier assen sie eine Henne. Die Sonne suchte alle Beinchen zusammen, band sie in ein Tüchlein und sprach: »Bewahre sie gut, du wirst sie noch benötigen.
Als für die Sonne Zeit und Stunde gekommen war, nahm sie das Mädchen auf den Rücken und trug es zum Winde. Wieder stand dort ein kleines Häuschen, in dem ein Lichtlein brannte, denn das Mädchen kam erst abends an. Sie trat ein und bat um ein Nachtlager. Da fragte der Wind: »Was suchst du hier?«, und auch ihm entgegnete das Mädchen: »Habt Ihr nicht den weissen Wolf gesehen?«
»Heute habe ich wohl schon zweimal mit ihm geredet«, sprach der Wind. »Es ist höchste Zeit, dass du kommst. Jetzt aber geh her und iss!«
Sie assen ein Huhn. Der Wind nahm alle Beinchen zusammen, gab sie ihr und sprach: »Bewahre dir die Knöchlein gut, sie werden dir bald vonnöten sein.«
Nun nahm er die Königstochter auf den Rücken und trug sie an den Fuss eines gläsernen Berges, der so hoch war, dass sie ihn gar nicht überschauen konnte. Im Berge aber war ein prächtiges Schloss, und auf dem Gipfel stand ein kleines Häuschen. Als der Wind sie niedergestellt hatte, fragte sie ihn:
»Was soll ich jetzt machen?«
»Du musst zu dem Häuschen hinaufsteigen!«
»Wie kann ich denn hinkommen, es führt ja keine Stiege hinauf?«
»Wirf bei jedem Schritt ein Hühnchenbein vor dich hin, das wird deine Stiege sein. Es kann dir niemand schaden und, dir wird nichts geschehen. «
»Wenn ich aber nicht genug Beinchen habe?«
»So denk an mich«, sagte der Wind, »und ich werde kommen.« ’
Da warf sie das erste Beinchen hin und begann den Glasberg zu besteigen. Schritt für Schritt, ein Knöchelchen nach dem andern auswerfend, kam sie vorwärts. Sie war beinahe schon oben, als sie auf das letzte Beinchen stieg, gerade eines fehlte ihr noch.
»Oh, mein lieber Wind«, rief sie, »komm mir zu Hilfe!«
Da sagte der Wind: »Schneid dir den kleinen Finger ab, auf dem kannst du den Schritt ins Haus tun!«
In ihrer Not folgte sie seinem Rate, und mit dem letzten Tritt fasste sie den Türgriff. Im Häuschen aber war der dunkle Jäger, der hatte auch schon die Türe angefasst und sagte: »Dein Glück, dass du da bist.«
Jetzt tat es einen Schüttler und Kracher, und das ganze Königreich war frei. Der weisse Wolf war ein verwunschener Prinz und in der Macht des schwarzen Jägers gewesen, aber nun war er der reichste König der Welt.
Sie hielten lange und fröhliche Hochzeit, dann aber sandten sie eine Botschaft an den Vater der jungen Königin und luden ihn zu sich. Der kam auch wirklich und freute sich von Herzen. »Das hätte ich nicht geglaubt, dass ein Wolf König würd“ sagte er ein über das andere Mal.»
Wieder einmal ein sehr (Symbol-) reiches Märchen. Und - vielleicht ist es dir aufgefallen - wieder im Oktober ein Märchen das einen Glasberg beinhaltet. Diese Märchen gehören für mich eindeutig in diese Jahreszeit, da wir doch Ende Oktober / Anfang November unseren Ahnen gedenken, die nicht mehr hier sind. Die sozusagen im Glasberg weilen. Und von der Symbolik her passt hier auch der Wolf sehr gut dazu: Denn dieser symbolisiert die "dunkle" Seite des menschlichen Bewusstseins, der Gang durch die Unterwelt. Auch sehr schön das Farbenspiel zwischen dem weissen Wolf und dem dunklen Jäger. Und dann noch Sonne, Mond und Wind. Ach, du merkst ich liebe so tiefschichtige Geschichten. Aber genug davon! Wenn es dich interessiert, schicke ich dir gerne weitere Ausführungen oder wir fachsimpeln darüber bei einem Kaffee.
Auf jeden Fall, dieses Märchen beinhaltet alles, was ich mir von einer spannenden Geschichte wünsche: Die Verzweiflung des Königs, die Ungeduld und später den Mut der Königstochter, die Unterstützung der Gestirne, der geheimnisvolle weisse Wolf, der sich als verwunschener König entpuppt und der mysteriöse dunkle Jäger.
Ich muss aber gestehen, dass ich das Märchen ein klein wenig verändere, wenn ich es erzähle. Für mich persönlich macht es mehr Sinn, wenn verwunschener König, dunkler Jäger und weisser Wolf alles die selbe Gestalt ist, die auf Erlösung durch die Königstochter wartet.
Mit Kindern würde ich eher nicht auf die Symbole eingehen. Meist verstehen Kinder die Bedeutung der Märchen nämlich intuitiv und teilweise viel besser als wir Erwachsenen. Ich würde die Geschichte einfach erzählen oder vorlesen und danach jene Bereiche aufgreifen, welche das Kind noch besprechen möchte.
Dies wäre z.B. möglich durch:
- Gespräch: Was denkst du ist da genau passiert? Was will uns diese Geschichte lehren?
- Zeichnung: Mach eine Zeichnung von dem Moment der Geschichte, den du noch am Meisten vor dir siehst!
Weg der Heldin legen mit Naturmaterialien (Nüssen, Blättern, ...). Wichtige Stationen aufzeigen und dann Geschichte nacherzählen
- Spaziergang durch einen unbekannten Wald und versuchen ohne Wegweiser und GPS aus dem Wald zu gelangen
- Geschichte nachspielen